Erinnerung an das jüdische Jugenheim
Juden in Jugenheim
Urkunden belegen, dass in Jugenheim seit dem 16. Jahrhundert bis zum Jahr 1938 ununterbrochen Juden lebten. Die mehr als 400jährige jüdische Geschichte des Dorfes hat in vielen Dokumenten Spuren hinterlassen – etwa die der beiden jüdischen Jugenheimer Weinhändler, die Anfang des 17. Jahrhunderts größere Mengen Wein aus dem Rheingau nach Frankfurt verkauft haben. 1620 Gulden waren ein guter Preis für das Geschäft, denn für einen Gulden musste ein Handwerksmeister damals zwei Tage lang arbeiten.
Schutzgeld und Steuern
Das Leben der meisten jüdischen Mitbürger war nicht leicht. Ihre Existenz war vom Wohlwollen der regierenden Fürsten abhängig, in Jugenheim waren das die Fürsten von Nassau-Saarbrücken. Juden hatten keine Rechte. Sie waren geduldet, wenn sie Schutzgelder zahlten – zusätzlich zu einer speziellen Steuer, dem „Juden-Leib-Zoll“. 1777 zahlten die Jugenheimer Juden 43 Gulden Schutzgeld und 29 Gulden Steuern. Erst 1796, mit dem Einmarsch der Französischen Revolutionsarmee in Rheinhessen, wurde die Willkür gegenüber Juden beendet. Sie bekamen Bürgerrechte, durften ihren Wohnort und die Berufe erstmals frei wählen, aber natürlich hatten sie die gleichen Pflichten zu erfüllen wie ihre christlichen Mitbürger, Steuern zu zahlen zum Beispiel.
1819 gab es in Jugenheim 197 Steuerzahler. Der damals wohlhabendste Jude, Salomon Teutsch, lag auf Platz 22. 1872 hatte Jugenheim 1083 Einwohner, davon waren 476 steuerpflichtig, davon 17 Juden. Jonas Kahn war jüdischer Bestverdiener. Er musste knapp 100 Gulden zahlen. Damit lag er unter allen Steuerpflichtigen im Dorf auf Rang 61. Juden waren demnach nicht die wohlhabendsten Bürger, obwohl einige von ihnen zu Zeiten der militärischen Auseinandersetzungen zwischen Franzosen, Preußen und Österreichern bis 1816 an Lieferungen diverser Waren für das Militär gut verdient hatten. Das galt aber gleichermaßen für christliche Handwerker, die, wie der Sattler Jean Marx, das französische Militär belieferten.
Handel und Gewerbe
Im Jahr 1800 gab es fünf jüdische Familien im Ort. 1825 hatte Jugenheim 816 Einwohner, davon 40 Juden. Die meisten Juden lebten 1861 in Jugenheim, es waren 67. 1933 gab es noch 18 Juden, das waren 1,9 Prozent der Bevölkerung. Die jüdischen Mitbürger waren meist Händler. In den Berufszweigen Landwirtschaft und Handwerk gab es zwar einige jüdische Winzer, aber keine Ackerbauern, und außerdem jüdische Metzger und eine Kleidermanufaktur. Von 1796 bis 1938 waren zusammengenommen 88 männliche Juden und 12 Frauen berufstätig. Sie handelten mit insgesamt 133 Produkten. Der Handel mit Textilien und Stoffen dominierte, gefolgt vom Handel mit Landprodukten: Getreide, Heu, Stroh, Hülsenfrüchten und Kartoffeln. Vertrieben wurden aber auch Süßwaren: Honig, Zucker und Salz sowie Haushaltswaren: Kerzen, Öl, Seife, Pfeifen, Messer, Porzellan und Glaswaren. Gehandelt wurde mit Papier, Schreibwaren, Tabak, Zigarren und Branntwein. Ein Jude, Michael Deutsch, hatte in der Angergasse 7 ein Lokal. Er firmierte im Handelsregister als Bier-, Branntwein- und Speisewirt. Im Dorf war er als „Schnapsmichel“ bekannt. Sieben jüdische Händler arbeiteten in Geschäftsräumen oder hatten Lager für ihre Produkte. Der Landprodukthändler Ferdinand Blatt aus der Hauptstraße 3 besaß 1922 ein Telefon. Es hatte die Telefonnummer 7 im Ortsnetz Schwabenheim.
Natürlich gab es auch Läden, die Jugenheimer Christen betrieben, und es gab Hausierer- und Hausiererinnen aus christlichen Familien. Man war gegenseitig Kunde. Bäcker Kröhl verkaufte an 19 Jugenheimer Juden koschere Backwaren, im Gegenzug belieferte ein Jude, bei dem er auch Kleidung kaufte, seine Gaststädte.
Jüdische Weinhändler und Winzer kauften bei christlichen Kollegen Wein hinzu. Von 37 Weinhändlern, die es im 19. Jahrhundert in Jugenheim gab, kamen 21 aus christlichen Familien und 16 aus jüdischen. Die Familien Teutsch und Blatt hatten Anwesen mit sehr großen Weinkellern. Weinhandlungen in anderen Orten, in Mainz und Ingelheim, betrieben die christliche Familien Weinel und Kuhn. Die jüdischen Familien Blatt und Vogel besaßen Weinhandlungen in Groß-Gerau, Mainz und Wiesbaden.
Immobilienbesitz
Aus alten Grundbüchern und Gemeindeakten lässt sich rekonstruieren, wem im Ort welche Grundstücke und Häuser gehörten. Die vier wohlhabendsten Juden besaßen Mitte des 19. Jahrhunderts rund 400 Felder, Weinberge, Wiesen- und Waldgrundstücke. Festzustellen, wem welche Hofreiten gehörten, ist nicht einfach. 1808 gab es in Jugenheim 138 Hausnummern. In den Urkunden aus den Geburts- und Sterberegistern wird klar, dass die Hausnummern mehrfach gewechselt haben und nicht immer korrekt angegeben wurden. Ein Einwohnerverzeichnis aus dem Jahr 1906 verzichtet auf Straßennamen, die in den Urkunden üblich waren. Deshalb lässt sich nicht für jedes jüdische Haus die heutige Nummer und der Straßenname angeben. Jüdische Häuser waren eindeutig die Angergasse 7, Edelsberg 5, 6, 9 und 13, Gartenstr. 1, 1a und 5, Hauptstraße 3, 9, 16, 19, und 33, Hintergasse 5 (die Synagoge), 6, 8 - 10, 20, 24 und 36, Mainzerstraße 9 und 14 sowie der Schanzenkorb 6. Einige der Häuser und Grundstücke waren Handelsobjekte, es gab im Ort mehrere jüdische Immobilienmakler. Insgesamt besaßen 11 jüdische Familien und deren verschiedene Zweige 26 Häuser.
Religiöses Leben
In Jugenheim gab es in der Hintergasse eine Synagoge. Sie wurde von Partenheimer Juden mitbenutzt. Seit wann es die Synagoge gab, steht nicht fest. Da es aber bereits vor 1800 einen jüdischen Lehrer gab, er hieß Callmann Laub, ist es wahrscheinlich, dass die Synagoge, die in Jugenheim „Judenschule“ genannt wurde, bereits im 18. Jahrhundert existierte. Unklar ist, wie lange die Synagoge genutzt wurde. Einige Quellen gehen vom Jahr 1929 aus, ein Zeitzeuge will sich erinnern, dass es noch Anfang der dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts einen Vorbeter gegeben haben soll. Mehrere Jugenheimer Juden waren in ihrer Gemeinde aktiv, Korrespondenz mit dem zuständigen Rabbinatsbezirk Bingen aus dem 19. Jahrhundert hat sich erhalten. Nach der Zerstörung der Synagoge durch Jugenheimer und auswärtige NSADP- und SA-Mitglieder in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde das Grundstück 1950 durch die jüdische Gemeinde Mainz an die jetzigen Besitzer verkauft.
Der Friedhof
Der jüdische Friedhof (link) war ein Bezirksfriedhof. Dort wurden die in den Gemeinden Jugenheim, Essenheim (bis zum Dezember 1877), Nieder-Saulheim (bis 1926), Partenheim, Vendersheim und Stadecken verstorbenen Juden beigesetzt. Sichtbar sind heute 207 Grabsteine, deren Lage, Erhaltungszustand und die Grabinschriften in einer Datenbank festgehalten und, soweit das möglich war, ins Deutsche übersetzt wurden. Es gab drei bekannte größere Zerstörungsaktionen auf dem jüdischen Friedhof in Jugenheim. Die erste 1885, die zweite im November 1938, als nach einem Zeitzeugenbericht Gräber in einer gemeinsamen Aktion von Jugenheimer NSDAP und SA zerstört und Grabsteine zum Teil zertrümmert auf einen Haufen geworfen wurden. 1978 wurden zum dritten Mal Grabsteinen zerstört, diesmal waren es 33. Die Zahl der Verstorbenen, in Jugenheim 120, in Essenheim 82 Personen – die Zahlen für Partenheim, Vendersheim, Nieder-Saulheim und Stadecken liegen noch nicht vor – macht deutlich, dass durch die Friedhofsschändungen viele Grabsteine fehlen, die eigentlich vorhanden sein müssten.
www.jugenheim-rheinhessen.de/juedischer-friedhof
Schulen und Vereine
Es sah lange so aus, als seien die Jugenheimer Juden in das Dorfleben integriert. Jüdische Geschäftsleute bekamen öffentliche Aufträge, etwa für den Neubau der Schule 1872. Zwischen 1869 und 1919 besuchten 30 jüdische Kinder die Dorfschule, einige wechselten auf weiterführende Schulen, auch auf das Jugenheimer Institut Lucius, das auf das Abitur vorbereitete. Jüdische und christliche Eltern bezahlten für ihre Kinder Schul- und Holzgeld und ließen ihre Kinder impfen. Juden waren Mitglieder in verschiedenen Vereinen, dem Gesangsverein, der Carnevalsgesellschaft, dem „Club der Gaukler“, dem Sportverein, zu dessen Gründungsmitgliedern die Juden Otto Blatt, Emanuel Urnstein, Salomon Müller und Hermann Vogel gehörten. Und natürlich waren Juden auch Mitglieder der Theatergruppe. Bis zum 27 Mai 1938, dann wurden die Vereine gleichgeschaltet und jüdische Mitglieder ausgeschlossen.
Feindseligkeiten lange vor 1938
Die offizielle Diskriminierung der Juden war seit der Franzosenzeit beendet, sie endete aber nicht. Es gab im Dorf eine Vielzahl judenfeindlicher Handlungen. Immer wieder wurden einzelne Personen und ihr Besitz von Christen attackiert. In den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts wurde in der Hauptstraße das Haus eines jüdischen Mitbürgers bis auf die Grundmauern zerstört. Zwei weitere Vorfälle werden für das Jahr 1848 geschildert. Dazu kam im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts judenfeindliche Hetze, die so klingt, wie die der Rassisten aus dem 21. Jahrhundert. Behauptet wurde, Juden würden Deutschland wirtschaftlich ausbeuten und das deutsche Volk sozial und rassisch zersetzen. Gefordert wurde die Entfernung von Juden aus dem Staatsdienst und die Einschränkung jüdischer Einwanderung. Für nationalistische Hetzer, die auch in Rheinhessen aktiv waren, waren Juden Schuld an allem. Jüdischer Sozialismus, jüdisches Großkapital, jüdischer Linksliberalismus und jüdischer Atheismus wurden zur Ursachen allen Übels erklärt. Behauptet wurde eine Verschwörung des internationalen Judentums zur Unterwanderung und Vernichtung des deutschen Volkes. Diese Agitation wirkte auch in Jugenheim und Partenheim. 1885 wurden auf dem jüdischen Friedhof Grabsteine demoliert. Antisemiten warfen den Juden die Fenster ein, Steinwürfe zerstörten die Dächer ihrer Häuser. In dieser Zeit verließen mehrere jüdische Familien Jugenheim. Judenhetze wurde lange vor dem dritten Reich alltäglich. Sie wurde Bestandteil zahlreicher Parteiprogramme. Nach dem ersten Weltkrieg, an dem Jugenheimer Juden als Soldaten für Deutschland gekämpft hatten und einer von ihnen, Eugen Müller, an der Front gestorben war, musste Deutschland für die durch deutsches Militär angerichteten Schäden Reparationen zahlen. Weltweit kam es in den 1920er Jahren zu Wirtschaftskrisen, die Weimarer Republik scheiterte. Die rechte Propaganda behauptete, Schuld an allem seien die Juden.
Verfolgung und Vertreibung in Jugenheim
Der in der NSDAP organisierte Rechtsradikalismus war in Jugenheim schon vor 1930 präsent. Mehrere Dorfbewohner waren bereits 1929 Parteimitglieder, es gab vier Mitgliedsnummern weit unter 160.000. Seit 1931 wählten mehr als 70 Prozent der Jugenheimer die NSDAP. Der menschenverachtenden Sprache folgten Taten. Die SA verfügte mit 50 bis 60 Mitgliedern über eine schlagkräftige Truppe. Es kam im Ort zu Übergriffen auf jüdische Dorfbewohner und Nazi-Gegner. Schlagläden und Fenster wurden zerstört, der jüdische Mitbürger Salomon Müller wurden bei einem der Übergriffe in einen Stall eingesperrt und genötigt, eine Schuld zu tilgen, die nicht beglichen war. Nach der „Machtergreifung“ Hitlers 1933 wurde den Jugenheimer Juden durch Kaufverbote und Repressalien sehr schnell die Lebensgrundlage entzogen. In der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde in Jugenheim nicht nur die Synagoge in der Hintergasse zerstört und der jüdische Beerdigungswagen, der durch das Dorf gezogen worden war, vor dem Bahnhof abgefackelt. Auch die Häuser der Familien Müller in der Hauptstraße 9 und in der Angergasse 7 wurden in der Pogromnacht geplündert und zerstört. Kurz nach diesen Ereignissen, am 28.11.1938, wurden die letzten sechs noch im Ort verbliebenen Juden in das Mainzer Judenhaus Bahnhofstraße 13 gebracht. Unter ihnen war Bertha Müller, die Auschwitz überleben sollte. Die anderen jüdischen Familien, zusammen zehn Personen, waren bereits am 25. März, am 31. März und am 28. Juni nach Mainz transportiert worden. Das war das Ende der mehr als 400-jährigen Existenz jüdischen Lebens in Jugenheim.
Jugenheim hat Grund, der in Konzentrationslagern ermordeten Jugenheimer Juden und ihrer Familienangehörigen zu gedenken und an sie zu erinnern.
Text: Wolfhard Klein
Jugenheim, Januar 2020
Verzeichnis der in Konzentrationslagern ermordeten Jugenheimer Juden und ihrer Familienangehörigen
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