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  • Panoramablick auf die Ortsgemeinde Jugenheim in Rheinhessen

Volkstrauertag - Die Rede einer aus der Ukraine geflüchteten jungen Frau

Rede von Inna Schevchuck, anlässlich der Gedenkfeier für die Opfer von Krieg und Gewalt am 13.11.2022 in Jugenheim
Frau Schevchuk ist Ärztin und am kam 4. März mit ihrer 8jährigen Tochter Yulia und ihrem Lebensgefährten aus Kiew nach Jugenheim. Sie lebt seitdem in Jugenheim.

Liebe Einwohnerinnen und Einwohner Jugenheims!

Noch vor einem Jahr hat dieser Tag - Volkstrauertrag - mir nichts bedeutet, ich wusste nicht mal von ihm. Heute weiß ich aus eigener Erfahrung, dass das Leben den größten Wert darstellt und niemand das Recht hat, es zu wegzunehmen.
Der brutale Krieg in der Ukraine dauert schon seit mehr als acht Monaten. Jeden Tag sterben unschuldige Menschen. Nach UNO-Angaben sind bereits mindestens sechseinhalbtausend Zivilisten ums Leben gekommen, darunter vierhundertdreißig Kinder. Denken Sie bitte über diese Statistik nach. Das sind Menschen, die einfach nur zu Hause oder unterwegs zur Arbeit waren. Das sind diejenigen, die friedlich geschlafen oder für die Familie gekocht haben. Das sind diejenigen, die einen Arzttermin hatten oder einfach nur mit ihrem Kind zum Spielplatz rausgegangen waren. Das sind diejenigen, die Verwundeten halfen, oder einfach sagten, sie lieben ihr Land und wollen in diesem Land weiterleben. Das sind Kinder, die nie mehr aufwachsen, nie mehr in die Schule gehen, nie mehr mit ihren Eltern lachen und nie mehr ihren Beitrag für die Zukunft leisten werden. Unsere Zukunft!
An Stelle dieser Menschen könnte JEDER von uns sein. Das ist die Tragödie von Millionen von Menschen, die von einem brutalen, blutrünstigen Land provoziert wurden, dem Land, das nur auf das Recht des Stärkeren hört und auf die ganze Welt Einfluss nehmen will. Russland macht alles, um das normale Leben nicht nur in der Ukraine, sondern in der ganzen Welt zu zerstören.
Ich selbst habe über den Kriegsausbruch am frühen Morgen des 24. Februars, direkt nach dem Klingeln des Weckers, erfahren. Es war übrigens auch die letzte Nacht, die ich in meinem Bett verbrachte. Es gab eine Nachricht vom Chef im Arbeitsgruppen-Chat: „Heute müsst Ihr nicht zur Arbeit kommen. Passt auf Euch selbst und Eure Lieben auf.“ Und dann kam eine ähnliche Nachricht in der Elterngruppe der Kindergartenkinder.
Danach war die Sirene. Laut, langanhaltend. Danach – entfernte Explosionen, Chaos auf den Straßen. Anrufe bei Verwandten, Nachrichtenkontrolle, Versuch, der Tochter zu erklären, was gerade vorgeht. Schnell das Nötigste zusammenpacken. Suche eines Luftschutzbunkers. Ich versuchte, irgendwie ruhig zu bleiben, es war aber schlicht unmöglich. Das Gefühl der völligen Ungewissheit warf einen aus der Bahn. Seitdem haben wir die meiste Zeit im Keller der Nachbarschule verbracht, in die die Tochter im September eingeschult werden sollte. Sie schlief im Keller auf dem Schülertisch, ich daneben auf dem Stuhl, aufpassend, dass sie nicht auf den Boden fällt. Um uns herum waren Kinder, Erwachsene, Haustiere. Und ganz oft Geräusche von Explosionen. Und Weigerung der Tochter, tagsüber aus Angst aus dem Keller rauszukommen. Kurze Besuche zu Hause, nur um frische Kleidung zu holen und etwas zu essen zuzubereiten. Horchen, ob nicht wieder eine Sirene losgeht, um wieder zu einem sicheren Platz zurückzukehren. Wieder Explosionen, Rauchsäulen am Horizont. Bewaffnetes Militär im Park. Blutlachen im Park nach Ergreifung von Diversanten. Wahnsinnige Schlangen in Lebensmittelläden, die immer noch offen waren. Unangekündigte Ausgangssperre für 48 Stunden, nur kleiner Vorrat an Lebensmitteln, Angst vor Hunger und Unmöglichkeit, den Luftschutzbunker zu verlassen. Unmöglichkeit, wegzufahren, weil alle Brücken zerstört und russische Einheiten nicht weit weg. Gedanken, wie geht es denn weiter.

So bin ich aus einer hochgeachteten Ärztin zu einem Flüchtling geworden. Es ist sehr schwer, in die Ungewissheit aufzubrechen. In ein Land, dessen Sprache und Kultur man nie gelernt hat. Wir fuhren über Polen. Als wir aus dem Zug ausstiegen, die erste Worte der Tochter waren: „Gibt es hier auch einen Luftschutzbunker?“. Es ist unmöglich, im vollen Umfang die Angst und den Schrecken wiederzugeben, die man erleben musste. Voller Grauen denke ich an die Erlebnisse derjenigen, die in einem okkupierten Territorium waren oder noch immer sind. Meine Familie ist in der Ukraine geblieben. Ich bin sehr um sie besorgt und rufe sie regelmäßig an. Zum Glück sind sie auf dem Territorium, das von der Ukraine kontrolliert wird. Ich weiß, dass sie mir nicht alles erzählen. Weil jedes Mal, wenn ich sage, ich möchte zurückkommen, antworten sie: „Warte noch, es ist nicht ungefährlich hier.“ Als wir nach Jugenheim kamen, war ich angenehm überrascht, dass man uns hier in allem hilft. Die Familie Hasenmeier hat uns die Unterkunft zur Verfügung gestellt, die Gemeinde und der Bürgermeister – mit allem, was notwendig war. Jugenheimer Einwohner gaben uns Kleidung, Schuhe, sogar Spielzeug.
Stellen Sie sich vor, wie sich ein Mensch fühlt, der etwas sagen, erklären möchte, es aber nicht kann. Erledigung von Amtsbesuchen, Behördengängen, Bankgeschäften waren eine richtige Bewährungsprobe. Aber dank Ihnen hat alles geklappt. Und jetzt spüren wir Ihre Unterstützung und Hilfe.

Im Namen meiner Familie und von allen Ukrainerinnen und Ukrainern in Jugenheim möchte ich Ihnen sehr danken – für alles, was Sie getan haben. Dafür, dass wir uns hier in Sicherheit fühlen können – und ein bisschen wie zu Hause.

 

Fotos: Margot Maslowski
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